Tiere sind uns Menschen nah, seit jeher, und doch so fern. Wir lieben sie und halten sie doch auf Distanz, in emotionaler, ethischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Paradox, oder? Die Beschäftigung mit Horse Power führt uns diese unterschwellige Ambivalenz vor Augen. Die Gessnerallee, selbst Schauplatz der einstigen Entpferdung, scheint dazu berufen, dieser ambivalenten Beziehung einen Programmzyklus zu widmen und dieses Steckenpferd einem kritischen Blick zu unterziehen.
Horse Power=W⁄t= ?
Horse Power – Pferdestärke (PS) – steht für Leistung. Leistung ist Arbeit (W) pro Zeit (t). Diese Masseinheit gilt nicht überall und ist veraltet, aber sie weist auf folgendes hin: Pferde verrichteten und verrichten bis heute Arbeit. Ich bin nicht bewandert in der Physik, ich interessiere mich weder für automobile PS, noch verstehe ich viel von Pferden. Dafür kenne ich mich aus mit Kamelen und tummle mich wissenschaftlich in den Human-Animal Studies. Aus dieser Perspektive nähre ich mich dem Begriff Horse Power und somit auch dem Themen Kosmos der Mensch-Tier-Beziehungen an.
Tierische Arbeit im Wandel
An der Gessnerallee ruhen mitten in Zürich Reithallen und Pferdeställe als Zeitzeugen tierischer Arbeit. In den 1860ern als Teil der Kaserne erbaut, erlebten diese Gebäude im letzten Jahrhundert der Pferde dessen Ende. Einst leisteten Pferde in Personenverkehr, Lastentransport, Landwirtschaft sowie für Militär und Polizei Schwerstarbeit. In spezialisierter Arbeitsteilung lieferten sie den Menschen Energie, gewährleisteten Mobilität und reproduzierten ihre Arbeitskraft in der Zucht. Mit dem Ende des Pferdezeitalters und der damit einhergehenden Entpferdung unserer Gesellschaft verschob sich der Fokus tierischer Arbeit (wie übrigens bei Kamelen z.T. auch) von körperlicher zu emotionaler Tätigkeit in neue Arbeitsfelder: Freizeit, Sport und Therapie. Pferde tragen heute zunehmend, zusätzlich zur Körperlast, die Ambitionen und Emotionen ihrer Reiter*innen.
Tieren Zeit zugestehen
Was würde es bedeuten tierische Arbeit zu anerkennen? Dazu ein einfacher Gedankengang: Im physikalischen Gesetz ist Horse Power durch den Faktor Zeit bestimmt. Im Tierschutzgesetz hingegen ist Zeit nicht geschützt, es finden sich keine Regelungen zu Arbeits-, geschweige denn zu Frei-, Eltern- oder Rentenzeit. Wie zu oft führt also auch hier die Frage nach den Arbeitsbedingungen auf die Schattenseite des Kapitalismus in die dunklen Graubereiche der Ausbeutung. Die Idee, Tiere mit Grundrechten auszustatten, wie kürzlich in Basel als Volksinitiative formuliert, scheint vielen sehr fern. Die Anerkennung tierischer Arbeit, gerade in der Leistungsgesellschaft, sollte mit einer Kritik des Arbeitsimperativs einhergehen. Wir wissen doch: zu viel Arbeit schadet dem Pferd, dem Menschen und der Umwelt. Das lehren uns Tierethik, Wachstumskritik oder die Klimakatastrophe. Denkanstösse dazu bieten dabei schon Akte tierischer Widerständigkeit, welche nichtmenschliche Arbeit oft erst sichtbar machen. Erst kürzlich erlangte an den olympischen Spielen in Tokio das Pferd Saint Boy, das dem Gebaren seiner Springreiterin mit verweigerten Sprüngen vehement trotzte, traurige Berühmtheit.
Tierische Leistungen
Wer das Pferd als Arbeitstier und Ware sieht, findet seine Nutzung und Ausbeutung vielleicht natürlich. Wer aber mit Pferden umgeht, denkt anders. Pferde sind keineswegs nur anonyme Angehörige einer arbeitenden Klasse. Als Persönlichkeiten mit Lebenswillen, Intelligenz, Gefühlen, Kreativität und Präferenzen erfahren und erwidern sie Liebe, Wertschätzung und Verehrung. Sie investieren ihre Horse Power in soziale Beziehungen, werden zu Gefährt*innen und sind – so formulierte es die feministische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway – mit ihren signifikant/-en Anderen unzertrennlich verbunden. Nicht nur durch ihre körperliche Arbeit, sondern auch durch ihre emotionale und symbolische Bedeutung leisten Pferde ihren Beitrag zur Gesellschaft. Wir erkennen dies in vielen Redensarten: «bestes Pferd im Stall», «Pferde stehlen», «dem geschenkten Gaul…» usw. Pferde sind eingebettet in Kultur, beispielsweise als mythische Mischwesen wie Centaurus, Pegasus oder das Einhorn. Und hier in Zürich erfüllen sie ihre eminente kulturelle Rolle des schwindlig Reitens der Zürcher Zunftgesellschaften am Sechseläuten – welches 1965 einmalig eine tierethische Alternative erlebte. Als historische Akteure schrieben sie Geschichte, auf der Pferderennbahn, im Film oder als Schlachtrösser. Ohne das mongolische Pferd etwa wäre der sogenannte Hunnensturm nach Westeuropa nicht möglich gewesen.
Tiere im Theater
Tiere sind uns Menschen nah, seit jeher, und doch so fern. Wir lieben sie und halten sie doch auf Distanz, in emotionaler, ethischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Paradox, oder? Die Beschäftigung mit Horse Power führt uns diese unterschwellige Ambivalenz vor Augen. Die Gessnerallee, selbst Schauplatz der einstigen Entpferdung, scheint dazu berufen, dieser ambivalenten Beziehung einen Programmzyklus zu widmen und dieses Steckenpferd einem kritischen Blick zu unterziehen. Die Künstler*innen werden uns neue Zugänge eröffnen, mal implizit, mal konkret. Sie verhandeln zoomorphe Identitäten, tauchen ein in tierpharmazeutische Dystopien oder erspielen Visionen eines wesensgerechten und zukunftsorientierten Zusammenlebens.
Liebes Publikum, lasst euch in der Gessnerallee zum wilden Nachdenken über eure Interspezies-Beziehungen inspirieren, huldigt der Animal Power. Und bleibt stets achtsam im Umgang mit euren Mittieren.
– Raphael Schwere, Ethnologe/Human-Animal Studies