Kein Heilen und Retten ohne kreatives und sorgsames Neu-Zusammensetzen. Genau hier beginnt hoffnungsvoller Erfindungsreichtum.
In Patrick Chamoiseaus Roman L’esclave viel homme et le molosse ergreift ein alter Versklavter die Flucht. Sein ehemaliger «Besitzer» kann diese Selbstbefreiung nur als kosmisches Ereignis begreifen: «chemischer Verfall, ungreifbar, jedoch bedeutsam». Ihm wird in Erinnerung gerufen, dass sein sachlich geglaubtes Eigentum ein lebendiger, eigensinniger Mensch ist. Der Sklavenhalter, dessen «Bosheit dermassen die Welt um ihn herum geordnet hat», wird seines Allmachtglaubens beraubt. Seine Welt bricht sprichwörtlich zusammen, denn er vermeinte sie kontrollieren zu können, indem er Menschen und Nichtmenschen durch Krieg, Raub, Enteignung und Vertreibung zu Waren machte.
Die Perspektive des Versklavten ist natürlich eine andere: Nie hat er dieser Unterdrückung zugestimmt. In den folgenden Passagen beschreibt Chamoiseau ein fürchterliches Rennen des Geflohenen mit dem Hund des Sklavenhalters. Dabei taucht der gerade Befreite in die ihm unbekannte Welt des Waldes ein. Immer mehr verschmilzt sein gemarterter Körper mit der Umwelt, jeder seiner ausgebreiteten Finger ist eine «begierige Wurzel, ein sensibles Blattwerk». Mit dem Abtasten dieser verschlungenen Welt erfolgt eine Metamorphose des Körpers und der Sinne. Befreiung von Unterdrückung und das knüpfen neuer Beziehungen zur Erde bedingen sich hier gegenseitig.
Der Autor verarbeitet poetisch eine reale historische Begebenheit, die der Politikwissenschaftler Malcolm Ferdinand als Ökologie der geflohenen Sklaven beschreibt. Während der gesamten Phase der atlantischen Sklaverei sind Versklavte von den Plantagen geflohen und haben versucht, eine andere Welt zu errichten, indem sie ihrer Umwelt Sorge trugen.
Die Aktualität dieser Geschichten liegt darin, dass sie das vorherrschende Verständnis von Freiheit verschieben. Statt einer individuellen Freiheit auf Kosten anderer Menschen und der Umwelt geht es um eine Freiheit in Verbundenheit mit anderen – Menschen und Nicht-Menschen. In vielen Umweltkämpfen weltweit wird heute an diese Idee angeknüpft.
Eine heile Welt gibt es dabei nicht. Weder in der Vergangenheit, wo Leid und Zerstörung den Lauf der Geschichte säumen. Noch in der Zukunft, wo ökologisch gesehen nichts mehr so sein wird wie früher. Kein Heilen und Retten ohne kreatives und sorgsames Neu-Zusammensetzen. Genau hier beginnt hoffnungsvoller Erfindungsreichtum.
Auch hierfür steht Chamoiseaus alter Sklave. Der findet zwar ein «Ich». Das Land, die Geschichte oder die Wahrheit wird er aber nie besitzen, so wie man über einen toten Gegenstand verfügt. «Es gibt derart viele Namen in mir».
Denn noch wissen wir nicht, was wir alles retten.