In Vorbereitung auf unsere erste Spielzeit an der Gessnerallee haben wir uns gefragt, was geschähe, wenn das bestehende Theatersystem zerschmettert würde…
In Vorbereitung auf unsere erste Spielzeit an der Gessnerallee haben wir uns gefragt, was geschähe, wenn das bestehende Theatersystem zerschmettert würde.
Wir sprachen mit Kulturschaffenden der neuen Generation über eine Stunde Null, in der Theater keine weissen Parallelgesellschaften wären, sondern die vielfältige Stadt spiegelten. In der Machtstrukturen, Ausbeutung und verengte Kunstverständnisse nicht als Sicherheit dienten, um sich im prekären System über Wasser zu halten. Wir wünschten uns einen Stillstand, in dem lähmende Professionalisierung und Wachstumszwang der Institutionen unterbrochen würden und endlich Platz entstünde für ehrliche Verantwortung, Ganzheitlichkeit, Spontaneität und True Love.
Dann kam der Lockdown und hat alles über den Haufen geworfen. Die aussergewöhnlichen Bedingungen verlangen jetzt umso dringender den Richtungswechsel, den wir uns gewünscht haben. Denn auf Stillstand folgt Bewegung. Wie viele andere, bewegen auch wir uns fragend zwischen Unklarheiten und Ambivalenzen. Wie agieren wir solidarisch und gleichzeitig autonom? Wie können wir individuell Verantwortung tragen und ein Kollektiv ohne Hierarchien sein? Und wie können wir zusammenleben, wenn wir Distanz halten müssen? Zunehmend haltlos erscheint die Zeit, in der wir leben, und selbst grundlegende/selbstverständliche Bereiche unseres Alltags entpuppen sich als vermeintliche Sicherheiten. Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, lässt sich genauso gut als Bewegung auf einer Skala betrachten. Trotz Distanz gibt es viele Formen des Zusammenseins – online, maskiert, diasporisch, mit geteilter Geschichte. Prozesse, die scheinbar schon immer auf bestimmte Weise gehandhabt wurden, sind nicht zwangsläufig richtig. Und ein Kollektiv kann organisiert sein wie ein Oktopus – ein Organismus ohne starres Skelett, dafür mit drei Herzen, acht Beinen und einer erstaunlichen Lernfähigkeit. Das fehlende Skelett gibt dem Kraken eine Beweglichkeit, die wir heute mehr denn je benötigen.
Für die erste Spielzeit und darüber hinaus arbeiten wir mit einer heterogenen Gruppe von Künstler*innen und Kompliz*innen, deren Persönlichkeiten uns mindestens so stark interessieren wie die Themen, mit denen sie sich beschäftigen. Am Eröffnungswochenende des ersten Zyklus – pro Spielzeit wird es fünf Programmzyklen à rund fünfeinhalb Wochen geben – zeigen wir deshalb kein Festivalprogramm mit fünfzehn fertigen Produktionen. Stattdessen stellen wir einen Teil dieser Künstler*innen und Kunstschaffenden vor und sie bieten einen Einblick in ihre künstlerische Praxis.
Die Gessnerallee wird zum «Kunst-Kraken» Zürichs und tastet sich mit ihren Tentakeln durch die Stadt. Sie bleibt ein Ort der performativen Künste, wobei «performativ» unglaublich viel bedeuten kann. Von Theater bis Tanz, von Konzert über Poetry Slam, bis hin zum gemeinsamen Reden, Kochen, Werken. Jeden Zyklus werden wir mit einem langen Wochenende eröffnen. Durch das Ausrollen von Klangteppichen laden wir euch am Eröffnungswochenende zum Zuhören ein: Sprache, Klänge, Musik gestalten die Räume der Gessnerallee und begleiten beim Erkunden des Hauses. Wir möchten das Zuhören mit euch, liebe Besucher*innen, üben. Zusammen zuhören und einander zuhören – das wünschen wir uns für die kommenden Jahre.